Nora Schoeller: 21 Reportagen – Betrifft Fotografie
Interviews von Ruth Horak, Hg. Alfred Fogarassy

ISBN: 978–3–902675–01–9 Salzburg, 2008, 207 Seiten mit ca. 327 Abbildungen, Hardcover
EUR 29,– Online Bestellung: www.fotohof.or.at

Platon hasst die Fotografie.

Tamara Horakova und Ewald Maurer lernten sich 1967 an der Akademie der bildenden Künste in Wien kennen. Seit ihrer Zusammenarbeit ab 1984 realisierten sie ein nahezu unüberschaubares Oeuvre, erhielten wichtige Preise der österreichischen Kunstszene und publizierten infolge ihrer Ausstellungen zahlreiche Kataloge und Bücher. 1995 bezogen sie ihr Studio ng40 in einem Otto-Wagner-Haus der späten strengeren Phase im 7. Bezirk. Ihre radikale Position bestimmt wesentlich den medienimmanenten Fotografiediskurs mit. Das folgende Email-Interview entstand Anfang 2008.

An der Akademie habt ihr Malerei und Bildhauerei studiert. Seit ihr im Team arbeitet, verwendet ihr fast ausschließlich Fotografie. Wie seid ihr zur Fotografie gekommen?
T.H.: 1984 organisierten wir die Aktion „Bildtransfer“, eine Art letzte Ausstellung der Malerei (Wien/München/Köln/Amsterdam/Prag).
E.M.: Im Jahr darauf mit den Aufklebern „Vive la société“ eine Fotoserie in den Straßen von Brüssel, Prag und Paris. Die Quelle dafür war das Transparent in Ensors Gemälde „Der Einzug Christi in Brüssel im Jahr 1889“ mit der Parole „Vive la sociale“.

Welches Werk würdet ihr euer erstes relevantes nennen?
T.H.: „Vive la sociale“, das erste große fotografische Bild, datiert 1985, Fotoemulsion/Lwd. Abbildung (erschlagene Ratte) und Titel codieren repressives Verhalten einer Gesellschaft gegenüber künstlerischen Intentionen.
E.M.: „Orange, weiß & blau“, ein zweiseitiges Bild von 1986, dessen fotografischer Teil auf einer mit Fotoemulsion präparierten Leinwand realisiert wurde. Leuchtorange Überwalzungen camouflagieren die an sich realistische Abbildung, Titel und Sujet sind politisch konnotiert. Es gelang uns, die Arbeit beim Förderungspreis für zeitgenössische Kunst in der Neuen Galerie Graz an erster Stelle zu positionieren. Das Bild ließ sich den in den 1980er Jahren vorherrschenden Genres wie Neue Malerei oder Autorenfotografie nicht zuordnen. Dazu sei auch angemerkt, dass damals die Galerien, öffentliche wie private, entsprechend dem Schema A oder B geführt wurden.

Welche war die erste wichtige Ausstellung?
E.M.: Für mich „2RUN“. Die Ausstellung war eine komplexe Installation mit programmierten Licht- und akustisch unterstützten Dunkelphasen.
T.H.: „2RUN“ mit sechs doppelseitigen fotografischen Bildern, digital verändert, je 360 x 290 cm, angefertigt 1987.

Die Arbeiten waren damals politisch aufgeladen und enthielten zahlreiche Querverweise: Zeitungsbilder wie das der erhängten Gudrun Ensslin; Bildzitate aus den 1940er Jahren; Kunststoffvasen, deren Form und Titel („Patriot“) auf die Duelle zwischen der irakischen Scud-Rakete und der amerikanischen Patriot-Abwehrrakete im Golfkrieg anspielen; die Krawatte als Symbol für den Jugoslawien-Krieg; und kurz nach der Samtenen Revolution habt ihr eine Ausstellung in Brünn dem ersten Präsidenten der neuen Republik Václav Havel gewidmet. Die konkreten Bildvorlagen durchlaufen dabei stets eine bildliche Transformation, sodass die angesprochenen Themen potentielle Bildinhalte sind, aber nie die alleinigen. Wie würdet ihr euer damaliges Interesse an der Verbindung zwischen Kunst und Politik beschreiben?
T.H.: Persönlich ist der politische Background unterschiedlich gewesen [T.H. ist in der ČSSR geboren und 1967 nach Österreich gekommen] und das blieb nicht ohne Auswirkung auf die gemeinsame Arbeit.
E.M.: Unsere Methode war eine der kontextuellen Rück- und Überblendungen. Z.B. verweist „Orange, weiß & blau“ auf ein farbiges Ordnungssystem des Militärs während des Vietnam-Krieges. Die mit Farbbalken markierten Fässer beinhalteten Pestizide und trugen Aufschriften wie „Agent Blue“, „Agent White“, „Agent Pink“ usw.
T.H.: Die Wirkstoffe wurden z. T. in der ČSSR vom Chemieunternehmen Spolana erzeugt, direkt nach Vietnam geliefert und dort auf den US-Flugzeugbasen zu den „Agents“ gemischt.
E.M.: Für Arbeiten wie „Orange, weiß & blau“ oder „2RUN“ verwendeten wir Medienbilder, darunter auch die Todesbilder von Bader und Ensslin, für „VÁCLAV HAVEL, Prezident“ das offizielle Porträt des neuen tschechoslowakischen Präsidenten, eine s/w-Fotografie aus dem Supermarkt Maj in Brünn, dort erhältlich wie jede andere Ware. Ebenfalls in diesem Kontext entstand ein 16-mm-Film mit historischem Wochenschaumaterial aus der ČSSR, neu geschnitten und unterlegt mit Auszügen aus Havels „Briefe an Olga“. In diesen Untertiteln sind ungezählte Alltagsdinge wie Zahnpasta, Rasierklingen usw. aufgelistet, um die der Autor vom Gefängnis aus ersuchte. Eine knallrote Krawatte, erstanden im Kiewer Gum, wurde als ein drei und ein vier Meter langes Diapositiv produziert und ergab, auf Glas kaschiert und in einer Höhe von zwei und vier Meter filigran platziert, ein adäquates Signal auf der 1. Österreichischen Fototriennale „KRIEG.“, 1993 in Graz.
Bei diesen Ausstellungen war rückblickend gesehen die Globalisierung ein wichtiges Thema von euch, lange bevor sie in der Kunst ein Thema wurde: Der Katalog aus der Neuen Galerie Graz z.B. ist von (originalen) internationalen Zeitungsseiten durchsetzt, die weltweite Verbreitung von Konsumwaren ist thematisiert, die Sprache des Computers kommt vor (Bildschirmzeilen, Pixel, Tastaturbefehle …). Im gleichen Jahr, in eurer Ausstellung in der Secession, ist die Zirkulation der Waren noch konkreter angesprochen. Auch in diesem Zusammenhang findet immer eine formale Übersetzung statt, kaum dass ein Objekt ein Ready-made bleibt, vielmehr werden die Marken, die Logos, die Werbung, aber auch der Prestigegedanke dahinter abstrahiert. Wie kam es zu dieser Auseinandersetzung mit der Warenwelt?
T.H.: Die Ware an sich ist symptomatisch. Ostblockprodukte änderten ihre Ästhetik – reduziert auf das Notwendige und ein wenig Ideelle – nicht. Der Westen präsentierte überwiegend sexistisch immer neue, attraktive Produkte. In den Printmedien der beiden Zonen fand man tagtäglich dieselben Kategorien, aber die Titelseite der PRAVDA unmittelbar nach dem Supergau in Tschernobyl war eine Extraklasse sozialistischer Inszenierung. (Zeitungen aus der Sowjetunion und der ČSSR hatte ich abonniert und für eigene Arbeiten verwendet.) Unsere Bildproduktion lief affirmativ zu der Ost- und Westart.
E.M.: Exemplarisch für diese Warenzirkulation und Transferästhetik ist das kleine Objekt „Geschälte Birnen/halbiert“ mit zwei auf einem Plattenspielerteller rotierenden Konservenbüchsen der Marke GLOBUS aus Ungarn. Es war das Interesse an oppositionellen Konstellationen von Ideen, Ideologien, medialem Bildmaterial und Waren. Bei „Champignons du Vietnam“ stammte der Titel von einer Dosenetikette und ein Sticker der Disney Company wurde zum Motiv. Die Aufnahmen am Leuchttisch bildeten einen Teil der Negativform ab, die nach dem Herausbrechen der Comic-Figuren blieb und an Champignons erinnerte.

Aber die Bilder waren auch schon damals Manifeste für eine Kunst, die sich nicht in den Dienst der Illustration begibt, die mehr ist als eine „unmittelbare Auseinandersetzung mit der Welt“, wie Werner Fenz im Katalogtext schreibt. Woher kommt dieses Interesse für eine Autonomie der Kunst?
E.M.: Fakt ist, dass sich Teile des Kunstbetriebs seit geraumer Zeit ausschließlich über heteronome Handlungsfelder legitimieren. Tatsächlich besaß auch die Serie „2RUN“ komplexe Verweisstrukturen; dazu kam ein erweiterter Einsatz von Materialien wie Beschichtungen der Leinwände mit Fotoemulsion und phosphoreszierenden Farbpigmenten. Jedes Bild war als binäres Konzept mit Vorder- und Rückseite angelegt. Die Seite aus der Zeitung Rudé Právo mit dem Artikel „Künstlerische Botschaften der Zukunft“ (Text: J. Kempný / ZK der KP?)wurde fotografisch auf eine der 290 x 360 cm-Leinwände appliziert. Der Text war so etwas wie ein letzter gesellschaftspolitischer Appell an die tschechoslowakischen Künstler.
T.H.: Der folgende Auszug ist typisch für den gesamten Inhalt dieses programmatischen Textes, publiziert zwei Jahre vor der Samtenen Revolution: „Sicher erwartet niemand, dass es möglich ist, sich mit einer Kunst ohne Gesellschaftswerte abzufinden, umso weniger mit einer Deformierung des Volksgeschmacks.“ Direktiv ist aber auch der komplexe westliche Kunstbetrieb.

Typisch für eure Arbeiten ist das große Format. Warum ist es so wichtig?
T.H.: Das Format ist ein logischer Teil der Aufnahmetechnik, die wir verwenden:
Polaroid TPX 8 x10 in., Ektachrome 8 x 10 in., selten 4 x 5 in. und 6 x 6 cm bzw. für die Minox 9 x11 mm. Der Print wird realisiert auf IC (Ilfochrome Classic), IU (Ilfochrome Universal) und XILD (Ilfoflex Digital), Rollenbreite: 55,5/72/105/127 cm. Die faszinierende Indexikalität der Aufnahmen des 19. Jahrhunderts ist nur so zu erreichen. Z.T. reflektieren die Arbeiten explizit diese Produktionsbedingungen, z.B. der „Bande test roll 1000“, IU, 105 x 1006 cm.
E.M.: Vor der Kinoleinwand oder vor Bildern ist die Suggestivwirkung wesentlich zwingender, wenn sich die Bildgrenzen nahe an die Peripherie des Gesichtsfeldes schieben und sich somit die Distanz zum Bild aufzuheben beginnt.

Wie sieht ein typischer Arbeitstag bei euch aus?
T.H.: 1995 begann die Arbeit im neuen Studio ng40 in Wien. Aber für einen typischen Arbeitstag gab es keine Zeit, wir sind permanent unterwegs gewesen. Als „typisch“ lassen sich nur folgende Arbeitsprozesse bezeichnen: 10, 20 und mehr Großformataufnahmen, scannen, die sog. Bande test (Probestreifen) aus Marly/CH anfordern, Korrekturen telefonisch durchgeben – Ausrollen der fertigen Bilder im Studio.
E.M.: 1998, im Schweizer Labor, gerade mit vorbereitenden Arbeiten für unsere ersten Lambda-Prints beschäftigt, passierte beim Belichten der Teststreifen ein signifikanter Fehler: Ein Probestreifen in der Breite von 127 cm schob sich, bevor das Gerät gestoppt werden konnte, endlose 4 m aus dem Prozessor. Der Irrtum dürfte bei der Formateingabe passiert sein. Eine sofortige Entscheidung zwischen wegwerfen oder akzeptieren war gefordert. Da der vorliegende Ilfochrome-Print („Bande test 1“) absolut perfekt zu sein schien, entschieden wir uns für Zweites.
Euer fotografieimmanenter Ansatz geht so weit, dass ihr eine theoretische Publikation „Image:/images“ 2001 im Passagen Verlag herausgegeben habt, mit Beiträgen von so wichtigen Leuten wie Victor Burgin, Régis Durand, W.J.T. Mitchell, Lev Manovich, Yve Lomax, Boris Groys, Abigail Solomon-Godeau u.a. Der Arbeitstitel war damals „Basispositionen im fotografischen Feld“. Was hat euch zu einem so starken Statement veranlasst?
E.M.: In der Phase des Paradigmenwechsels von analog zu digital sollten Basispositionen der zeitgenössischen Theorie und Praxis versammelt werden. Unser Beitrag demonstriert exzessiv, wie man narrativen Ballast über Bord wirft.
T.H.: Und damit jede Bindung an die reproduktive Realität fotografischer Bilder – Platon hasst die Fotografie.

Was haltet ihr für einen der wichtigsten Aspekte in eurer Arbeit?
T.H.: Die Arbeiten wurden radikaler als die Realität. 1922 gab es eine Umfrage von Alfred Stiglitz: „Kann ein Foto die Bedeutung von Kunst haben?“ Marcel Duchamp schrieb als Antwort: „Ich wünschte, es würde die Leute dazu führen, die Malerei zu verachten, bis irgendetwas anderes die Fotografie unerträglich macht.“ – Marcel, heute ist die Fotografie das Medium der Gemeinplätze!
E.M.: Die Reduktion von Wirklichkeit oder deren Redundanz
(aktuell: 150 m unentwickeltes Fotopapier).

Interessiert euch die Verschränkung von Formalem und Politischem heute noch?
E.M.: Als abgeschlossenes Werkkapitel – ja (z.B. die roten Krawatten haben an ihrer Brisanz nichts verloren).
T.H.: Retrospektiv.

Haben die Fragestellungen der Kunst und der verwendeten Medien gesiegt?
T.H.: Die meisten unserer Arbeiten sind autonom und gerade deshalb nehmen sie die kritische Funktion der Kunst ein – der Begriff selbstreflexiv ist eigentlich ein Instrument, um eben diese Funktion auszublenden.

1992 habt ihr ein unglaublich schönes und aufwendiges Projekt in Mies van der Rohes Villa Tugendhat realisiert. Was hat euer Interesse an diesem Haus geweckt und wie konntet ihr die Ausstellung dort tatsächlich machen – war das Haus zu dieser Zeit doch noch als postkommunistisch-staatliches Gästehaus genützt.
E.M.: In den „Schwarzen Feldern“ von Brünn steht man unvermittelt vor dem Hauptwerk des Internationalen Stils: Funktionalistisch mit einem Raster aus chromummantelten Kreuzstützen, einer Leuchtfläche und dem Raumteiler aus Onyx. Die Zeitgeschichte des Hauses: 1930 fertig gestellt, 1938 Emigration der Bewohner und Okkupation der Tschechoslowakei durch die Nazis, Konstruktionsbüro von Messerschmidt, Verlust bzw. Zerstörung eines Großteils des Originalmobiliars, ab 1948 Verstaatlichung, Nutzung als Tanzschule, Kinderspital und Gästehaus.
T.H.: Über Vermittlung des Galeristen Karel Tutsch veranstaltete das Amt der Stadt Brünn, Sektion Kultur, die Ausstellung. Primär interessierte uns eine Abgleichung mit van der Rohes Reduktionismus. Haus Tugendhat steht aber auch für das Aus der europäischen Moderne infolge der NS-Diktatur. Das Mobiliar der späteren sozialistischen, heute „Totalita“ bezeichneten Zeit wurde für die Dauer der Ausstellung durch Rekonstruktionen der ursprünglichen Objekte ersetzt: X-Tisch, T-Sessel, Fragmente des Buffets. Wir fotografierten rein dokumentarisch Außen- und Innenbereiche der Villa.

Seit 1995 arbeitet ihr vor allem in eurem Studio in der Neustiftgasse 40. Eure Motive sind seither oft Materialien, die aus dem engeren Produktionszusammenhang stammen: ein Büroschrank, ein Probestreifen, die Fotopapierrolle.
T.H.: Im zuerst leeren Studio wurde das Licht an den Wänden fotografiert, nachdem die Bürobox dazukam, wurde diese fotografiert. Serienweise, als drehbares Parallelepiped. (Serie „Less“ von Jean Nouvel.) usw., immer die neuen, nachfolgenden Situationen, selten Aufnahmen außerhalb des Studios, wie z.B. die des Wiener Judenplatzes im Umbau.
E.M.: Alle fotografierten Objekte sind Projektionsflächen für das Fotografische und Reduktionistische, gemeint als Abwendung von der bloßen, x-fach reproduzierten Wirklichkeit. Ansonsten sind sie überbordend und dynamisch.
T.H.: Man kann es mit der barocken Faltung der Materie vergleichen. (Gilles Deleuze, „Die Falte. Leibnitz und der Barock“, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2000.)

Von den Fotopapieren gibt es eine ganze Genealogie (verschiedene Aufsichten, Seitenansichten, ausgebreitete Rollen etc.). Was bedeutet die „Variation“ von einem Motiv für euch?
E.M.: Pragmatisch geantwortet: Für jede neue Fotoserie verbrauche ich max. eine 10er Packung Planfilme, das muss reichen, denn das 7 x 10 in.-Material ist knapp. Bei den Aufnahmen kann es zu „Variationen“ des Motivs kommen. Bei der engeren Auswahl des Filmmaterials für Scans und in der Folge für Vergrößerungen waltet jedoch die Ökonomie der Bilder und fotografischen Mittel. Nur stringente Sujets führen zu nicht austauschbaren künstlerischen Statements. Das Motiv der Fotopapierrolle ist in Bezug auf das Medium Fotografie ein narzisstisches Motiv und einzelne Bilder in diesem Kontext streifen ans Manieristische. „Variationen“ aber gibt es nur im Bild selbst und nicht innerhalb einer Werkgruppe, hier herrscht die nötige Differenz.

Welche Künstler schätzt ihr?
T.H.: Künstler, die das Mediale bloß für Inhalte von außen benutzen, kaum.
E.M.: Die umgekehrte Frage wäre leichter zu beantworten.

 



Foto: Nora Schoeller ©